Was passiert im Körper, wenn man akut viel Stress hat?
Dr. med. Caroline Neumann: Die akute Stressreaktion ist an und für sich eine positive und wichtige Funktion des Organismus, die unser Überleben sichern soll. Wenn wir mit einem Reiz konfrontiert sind, bewerten wir diesen zuerst einmal und prüfen, ob er eine Bedrohung oder Herausforderung darstellt. Sollte dies zutreffen, folgt eine Beurteilung auf einer zweiten, sehr persönlichen Ebene. Hierbei schätzen wir unsere eigenen Ressourcen und Widerstandskräfte ein. Sind die Hilfsmittel, die uns zur Verfügung stehen, ausreichend zur Bewältigung des Reizes? Nur wenn wir diese Frage mit „Nein“ beantworten, stufen wir den Reiz als Stressor ein. Diese Vorgänge dauern nur Millisekunden und stellen den ersten Schritt der Stressreaktion dar.
Nur wenn diese beiden Voraussetzungen erfüllt werden, setzen wir uns auf der körperlichen Ebene mit dem Reiz auseinander. Hier kommt es zur Ausschüttung der Stresshormone Adrenalin und Nordadrenalin aus dem Nebennierenmark und des Cortisols aus der Nebennierenrinde. Dadurch wird das sympathische Nervensystem aktiviert. Das Ziel dieser Reaktion ist, die Energie so umzuverteilen, dass der Körper auf eine Flucht- oder Kampfsituation vorbereitet wird. Unser Körper befindet sich im akuten Stress also in einer absoluten Hochleistungsphase. Die Muskulatur wird sehr gut durchblutet und angespannt. Der Blutdruck sowie Atem- und Herzfrequenz werden erhöht. Die Gefäße verengen sich, die Bronchien werden geweitet. Die Blutgerinnung wird aktiviert. Über den Blutzucker und die Blutfette wird Energie freigesetzt. Andersherum gibt es einige Bereiche des Körpers, die im Normalzustand viel Energie verbrauchen, aber in einer Stresssituation nicht benötigt werden. Dazu gehört u. a. der Magen-Darm-Trakt, die Verdauung der Nahrung hat in einer akuten Stressphase keine Priorität und wird eingestellt. Das Immunsystem wird kurzzeitig aktiviert und dann gedrosselt. Die Hautdurchblutung ist verringert, die höheren Hirnfunktionen werden heruntergefahren. Akut bedeutet, das Auftreten des Reizes ist zeitlich begrenzt, ihm sollte zum Ausgleich also eine Entspannungsphase folgen. Dabei wird der Parasympathikus aktiviert und sowohl Zeit als auch Energie zur Regeneration und Reparatur aufgewendet.
Wie kann sich chronischer Stress auf Körper und Psyche auswirken?
Dr. med. Caroline Neumann: Dass wir heutzutage chronisch, also durchgehend mit Stress konfrontiert sind, ist das eigentliche Problem, nicht der Stress an sich. Die Reize sind nicht mehr zeitlich begrenzt, wir erlauben uns nicht mehr, auf die Anspannung mit Entspannung zu reagieren. Früher war der Mensch 1 bis 2 Stressoren am Tag ausgesetzt, heute sind es etwa 50 bis 100. Wir leben permanent in einem Notfallmodus. Bevor die Entspannungsphase einsetzen kann, kommt ein neuer Reiz dazu. Die Stressreaktion potenziert sich und zusätzlich werden die Reize immer vielfältiger. Der Körper und die Psyche befinden sich durchgehend in einer Dysbalance. Einige Organsysteme sind stetig überbelastet, andere unterversorgt. Dadurch entstehen verschiedene körperliche Beschwerden, wie z. B. Kopfschmerzen, Verspannungen oder Verdauungsstörungen. Aber auch psychische Symptome wie Angst oder Hilflosigkeit können auftreten, welche sich bei andauerndem Stress manifestieren können in Form einer Depression, Erschöpfungszuständen wie einem Burn-Out oder Angstzuständen. Viele Betroffene tendieren dazu, sich in Stressphasen sozial zurückzuziehen und sich keine Pausen mehr zu gönnen. Auch der Konsum von Nikotin oder Alkohol wird oft als Ventil genutzt, um Stress abzubauen.
Wie merkt man, dass man zu viel Stress hat?
Dr. med. Caroline Neumann: Wenn man den Stress bemerkt, ist bereits der erste, sehr wichtige Schritt getan. Achtsamkeit gelingt selten in dem Autopilot-Zustand, der uns in Stresssituationen beherrscht. Um Stress zu bemerken, muss man ein Bewusstsein dafür schaffen, wie es dem Körper und der Seele aktuell geht. Körperlich gibt es verschiedene Stress-Warnsignale wie Verspannungen, Schweißausbrüche, nächtliches Zähneknirschen, Herzrasen, Übelkeit, Tinnitus und Gewichtsschwankungen. Auf emotionaler Ebene sind Gefühle wie Angst, innere Unruhe oder Hilflosigkeit, aber auch Aggression oder übermäßiges Sorgen häufig. Die kognitiven Fähigkeiten sind in Stresssituationen eingeschränkt. Es kann bei Stress zu Konzentrationsschwäche, Verlust von Kreativität und Gedächtnisstörungen kommen. Bezüglich des Verhaltens kann sich Stress durch Schlafstörungen oder zwanghaftem Verhalten in Beziehungen äußern.
Welche Krankheiten stehen in Zusammenhang mit Stress?
Dr. med. Caroline Neumann: Die Bandbreite der Erkrankungen, die auf unserem Lebensstil basieren, ist weitreichend und betrifft alle Organsysteme und genauso unsere mentale Gesundheit.
Eine typische Stresserkrankung ist beispielsweise Bluthochdruck, welcher langfristig zu einem Herzinfarkt oder Schlaganfall führen kann. Es gibt zahlreiche Verdauungsstörungen, die mit Stress assoziiert sind, wie Sodbrennen, Reizdarm und Durchfall. Auch das Immunsystem reagiert auf Stress, es zeigt sich durch eine höhere Infektanfälligkeit oder wiederkehrende viral getriggerte Beschwerden wie Herpes. Autoimmunerkrankungen haben meist eine genetische Disposition, jedoch ist der Auslöser, der einen Schub dieser Krankheiten hervorruft, häufig stressassoziiert.
Ebenso sind Erkrankungen, die den Stoffwechsel betreffen, wie Diabetes mellitus Typ 2 oder erhöhte Blutfettwerte, zu großen Teilen durch den Lebensstil bestimmt und können langfristig die Lebensqualität stark einschränken. Stress erhöht den Blutzucker und die Konzentration der Blutfette, er lässt wenig Raum für achtsame Ernährung und ausreichend Bewegung.
Die am weitesten verbreiteten Beschwerden, wie chronische Rücken- oder Kopfschmerzen haben nur selten eine organische Ursache, vielmehr sind sie oft die Folge einer permanenten Muskelanspannung während der Stressreaktion.
Meiner Meinung nach basiert der Großteil aller körperlichen und mentalen Symptome auf chronischer Stressbelastung in all seinen Formen. Die große Chance der heutigen Medizin besteht darin, diese Problematik präventiv abzufangen und die PatientInnen bezüglich Stressmanagement, Achtsamkeit und gesunder Ernährung in die Erhaltung ihrer Gesundheit aktiv miteinzubeziehen.
Wie gefährlich schätzen Sie Stress als Risikofaktor für die Gesundheit ein?
Dr. med. Caroline Neumann: Stress bedeutet nicht nur Zeitdruck, sondern auch emotionalen Stress, psychische Belastung, ungesunde Ernährung oder schlechte Klimabedingungen. Meiner Ansicht nach ist Stress der größte gesundheitliche Risikofaktor der heutigen Zeit. Der andauernde Stress führt dazu, dass wir keine Kapazitäten haben zu regenerieren. Zu den extrinsischen Stressfaktoren kommen innere Stressoren wie Perfektionismus, ein extrem hoher Anspruch an sich selbst, sozialer Vergleich oder Katastrophisieren. Die eigene Wahrnehmung kann ausreichen, eine körperliche Stresssituation in Gang zu setzen und negative Gedanken haben einen großen Einfluss darauf, wie unser Körper reagiert. Umgekehrt sehe ich darin aber auch die Chance der Bewältigung dieser Anforderungen. Stress hat immer auch etwas mit meiner Sicht auf meine Ressourcen zu tun und der Art, wie selbstwirksam und achtsam ich mit mir, meinem Körper, meiner Psyche und meiner Gesundheit im Allgemeinen umgehe.