Kurz erklärt: Was ist ein Lipödem?
Jürgen Frost: Ein Lipödem ist im Grunde eine Fettverteilungsstörung, von der man noch nicht genau weiß, was letztlich die Ursache ist. Es werden mehrere Faktoren verantwortlich gemacht, die zur Entwicklung eines Lipödems führen. Es scheint eine gewisse genetische Disposition zu sein, sie hat einen hohen Stellenwert.
Das Lipödem ist eine sehr komplexe Erkrankung. Sie zeichnet sich durch bestimmte Fettdepots aus, die ganz anders aufgebaut sind als herkömmliche Fettdepots. Sie sind extrem schmerzempfindlich. Der Körper reagiert universell auf Schmerz und schickt Körperabwehrstoffe an die betroffenen Stellen. Im Laufe der Zeit entstehen dort lokale Entzündungen. Die überschüssigen Prozesse führen zu einer Veränderung der gesamten Gewebestruktur. Es entstehen noch mehr Schmerzen. So beginnt der Kreislauf.
Wie erkennt man ein Lipödem?
Jürgen Frost: Wenn ich Patientinnen in der Praxis habe, die neu sind, wird immer eine Stammbaumanalyse erstellt. Bei vielen gibt es hier Hinweise auf die Erkrankung, zum Teil überspringt sie zwei Generationen. Wenn sie keine Informationen dazu haben, begutachte ich Bilder aus Kindheit und Jugend. Dies kann Hinweise darauf geben, ob im Verlauf der biologischen Entwicklung sichtbare Veränderungen nachzuweisen sind, von denen man weiß, dass sie das Lipödem begünstigen. Es kommen zahlreichen Untersuchungen hinzu.
Lipödem kann auch in Zusammenhang mit epigenetischen Veränderungen entstehen. Dazu zählen zum Beispiel eine Fehlernährung oder die Einnahme der Antibabypille im jungen Alter von 13 oder 14 Jahren. Anhand der Ursachen kann man eine Behandlungsstrategie entwickeln.
Welche Symptome treten bei einem Lipödem auf?
Jürgen Frost: Ein bekanntes Symptom ist die Veränderung der Körpersilhouette. Im Vordergrund stehen jedoch die Schmerzen. Es handelt sich hierbei um neuropathische Schmerzen, die sich durch starkes Brennen auszeichnen. Außerdem typisch sind Spannungsgefühle, die von der Tageszeit abhängig sind. Die Belastung ist in den meisten Fällen in den Beinen. Rein physiologisch kommt es bei jedem Menschen mit verstreichender Tageszeit zur höheren Volumenbelastung in den Beinen. Bei Lipödem-Patientinnen führt dies zu Schmerzen. Die Veränderung der Gewebestruktur beim Lipödem führt zu einer Verhärtung. Dies beeinflusst die Rückflusseigenschaften des venösen sowie des Lymphsystems. So verbleibt mehr Flüssigkeit im Gewebe, was zur Schwellung von Beinen, Knöcheln oder den Füßen führt.
Wenn man außerdem im Alltag viel sitzt, entsteht ein diffuses Spannungsgefühl. Viele der betroffenen Frauen bemerken, dass ihre Leistungsfähigkeit abbaut, häufig in der Mittagszeit. Je nach Stadium der Erkrankung ist der Leistungsabfall sehr dramatisch. So kann den Anforderungen des Alltags, sei es Beruf, Familie oder sonstiges, nicht mehr in gewohnter Weise standgehalten werden. Das begünstigt die Entwicklung einer reaktiv-depressiven Haltung. Diese löst häufig bestimmte Verhaltensweisen aus wie beispielsweise Rückzug. Daraus entsteht ein komplexes Beschwerdebild. Oft führt es bei Betroffenen dazu, die Schwierigkeiten mit Wohlfühlstoffen auszugleichen wie hochkalorische Nahrungsmittel. So befeuert man den Kreislauf natürlich noch mehr und wird immer weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt.
Wie zeichnen sich die verschiedenen Stadien des Lipödems aus?
Jürgen Frost: Die klassischen Grade des Lipödems gehen von 0 bis 3. In der modernen Diagnostik richtet man sich hauptsächlich danach, da das Raster notwendig ist, um Verordnungen tätigen zu können. Die ExpertInnen für Lipödem-Erkrankungen sehen die Schweregrade deutlich differenzierter mit feineren Unterschieden.
Beim Stadium 0 spricht man von leichten Beschwerden, die in jungen Jahren ab und zu auftreten, meist kurz vor der Periode. Das Lipödem wurde lange als Auswirkung der hormonellen Umstellung fehlgedeutet. Heute weiß man, dass das Lipödem enorm abhängig ist von der hormonellen Situation. Je nach Zyklusphase treten bei leichten Beschwerden nur für kurze Zeit, ein paar Stunden oder einen Tag, Schmerzen oder Schwellungen auf, die dann wieder abklingen. Nach einem oder mehreren Monaten treten die Beschwerden erneut auf.
Bei Stadium 1 ist die Silhouette noch nicht stark verändert. Hier fallen lediglich erste Gewebedepots auf, die sich anders verhalten als der Rest des Körpers. Wenn man an diesem Punkt verschiedene Interventionen wie Verordnungen oder Empfehlungen zur Ernährung gibt, kann man die Entwicklung deutlich verlangsamen.
Im zweiten Stadium entsteht ein disproportioniertes Wachstum. In der Regel beginnt das Volumen der Beine, vor allem an den Hüften, Oberschenkeln und Waden, zuzunehmen. Häufig sind Schwellungen in Bereich der Achillessehne, die besonders schmerzhaft sind. Oft nimmt auch das Volumen an den Armen zu, besonders oft an der Rückseite der Arme.
Im fortschreitenden Verlauf nimmt die Anzahl der betroffenen Körperbereiche zu, auch oberhalb der Hüfte bis zur Taille. Überall sind schmerzempfindliche Stellen. An den Oberarmen ist oft ein starker Zuwachs zu beobachten, sodass die Arme nicht mehr über den Kopf gehalten werden können. Dadurch entsteht eine gewisse Kraftlosigkeit. Im letzten Stadium sind fettüberhängende Bereiche zu erkennen und jeder Schritt löst Schmerzen aus. Drittgradiges Lipödem ist in unserer Region mit starkem Übergewicht vergesellschaftet. Hier ist es wichtig zu sagen, dass Lipödem und Adipositas zwei verschiedene Dinge sind. Diese haben ursächlich keine Verbindung. Übergewicht entsteht vor allem durch Fehlernährung und -bewegung. Die Gefahr für jemanden mit Lipödem in ein solches Fehlverhalten zu verfallen, ist natürlich hoch.
Was kann man gegen Lipödem tun?
Jürgen Frost: Konventionelle Therapien von Seiten des Gesetzgebers und der Schulmedizin sind Bestrumpfung und manuelle Lymphdrainage. Bei Lipödem Grad 3 kann man einen Antrag stellen für eine Liposuktion. Bei dieser Operation werden meist jedoch nur die betroffenen Fettdepots entfernt, sehr häufig jedoch nicht das umliegende Gewebe. Wenn man nur das schmerzempfindliche Gewebe entfernt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Erkrankung an anderen Stellen wieder auftritt. Man ist früher davon ausgegangen, dass die Liposuktion das Lipödem heilt. Das stimmt nicht. Sie entfernt die konkreten Stellen, aber andere können sich bilden. Es gibt verschiedene Maßnahmen, um die Entwicklung des Lipödems zu unterbinden. Diese sind sehr individuell und müssen täglich von den Patientinnen selbst durchgeführt werden, anfangs bestenfalls unter Anleitung. Die erste Runde der Begleitung dauert aus meiner Erfahrung 3 bis 4 Jahre. Die meisten PatientInnen sind dann so stabil, dass sie erst einmal allein zurechtkommen. Dann benötigen sie nur etwa 2- bis 3-mal im Jahr eine Beratung. Es braucht jedoch Kontrolltermine, da die Rückfallquote sehr hoch ist.
Man kann also das Lipödem durch eine Anpassung der Lebensweise stark beeinflussen?
Jürgen Frost: Ich würde sagen: Ja. Dazu tobt jedoch aktuell weltweit eine Diskussion. Die operativen KollegInnen lehnen diese Haltung ab. Das Lipödem hätte mit der Ernährung nichts zu tun. Das ist ursächlich auch richtig, aber die Dynamik und die Intensität lassen sich dadurch beeinflussen. Die Professorin Gabriele Faerber beschäftigt sich in Deutschland intensiv mit dieser Thematik. Sie erforscht den Einfluss der Ernährung auf das Lipödem. Ich erstelle seit mehreren Jahren Ernährungskonzepte für Patientinnen, führe Schulungen mit ihnen durch und gebe Bewegungsanleitungen an die Hand. Das funktioniert recht gut.
Was sollten Lipödem-Patientinnen im Bereich Sport und Ernährung unbedingt vermeiden?
Jürgen Frost: Ein großer Fehler im Bereich Sport ist hauptsächlich auf Kraftaufbau zu setzen. Man sollte das Krafttraining nicht aus den Augen verlieren. Es steht beim Lipödem jedoch eindeutig nicht im Vordergrund. Wenn man Muskulatur aufbaut, arbeitet man sehr stark hormonaktiv. In diesem Fall geht es um das Testosteron. Das Hormon hat beim Lipödem eine Trigger-Funktion. Es hat Auswirkung auf den Fettstoffwechsel. Der Fokus sollte auf Ausdauersport gelegt werden. Das Beste sind hier Schwimmen oder Nordic Walking. Auch hilfreich sind einfache Dehnübungen.
Mit Blick auf die Ernährung sollten Frauen, die an Lipödem erkrankt sind, tierisches Eiweiß meiden. Empfehlenswert ist eine möglichst pflanzenbasierte Ernährungsweise. Man muss jedoch auf bestimmte Verteilungsstrukturen achten. Es ist wichtig den Stoffwechseltyp zu bestimmen und entsprechend dazu Ernährungsempfehlungen zu geben.
Was kann man konkret gegen die Schmerzen beim Lipödem tun?
Jürgen Frost: Im Grunde steht einem die gesamte Schmerztherapie offen. Um aus dem Kreislauf der Schmerzen hinauszukommen, macht es Sinn, einen Schmerzplan aufzustellen. Das bedeutet, dass Schmerzmittel nicht ab und zu eingenommen werden, sondern nach einem Raster Medikamente eingenommen werden, egal ob man Schmerzen hat oder nicht. So kann man der Schmerzschleife entkommen. Wenn man nur gelegentlich Schmerzmittel nimmt, läuft man dem Schmerz hinterher. Betroffene müssen den Körper quasi umprogrammieren darauf, wie es ist, ohne Schmerzen zu sein. Dann kann man eine Situation erreichen, in der die Dosis reduziert werden kann. Ich arbeite meist in Kombination mit Naturmedizin. Irgendwann sind die Patientinnen dann so weit geschult, dass sie je nach Intensität der Belastung den Schmerzplan selbstständig beginnen.
Andere Methoden, die man Patientinnen vermitteln kann, sind bestimmte Bäder. Auch Wickeltechniken können Besserung bringen.
Was sind die größten Irrtümer, die über das Lipödem existieren?
Jürgen Frost: Der größte Irrtum auf Seiten der ÄrztInnen ist, dass die Erkrankung als Resultat von Übergewicht angesehen wird, statt den Prozesscharakter zu erkennen. Ein weiterer großer Irrglaube ist, das Lipödem wäre ein statischer Zustand. Selbst bei einem genetisch bedingten Lipödem kann man die Intensität stark beeinflussen. Wenn man alle Register zieht – Operation, Verhaltensänderung, emotionale Begleitung – dann können Betroffene ein hohes Maß an Lebensqualität zurückgewinnen.