Trauriges Mädchen mit Teddybär auf Sofa.
  1. Autismus: Wo Diagnose zum Privileg wird
  2. Erklärungsmodelle für den Diagnose Gap bei Autismus
  3. Autismus bei Frauen erhöht die Gefahr sexueller Übergriffe
Trauriges Mädchen mit Teddybär auf Sofa.

Autismus wird in Fachkreisen als eine tiefgreifende Entwicklungsstörung klassifiziert und beginnt in der Regel bereits, sich in der frühen Kindheit zu manifestieren. Von hochfunktionalem Autismus spricht man derzeit, wenn zusätzlich eine normale Intelligenz vorliegt. Das Asperger-Syndrom ist eine Unterform des Autismus und geht allgemein nicht mit einer Beeinträchtigung der Intelligenz und teilweise sogar mit überdurchschnittlicher Intelligenz einher.

Autismus wird laut ICD-10 in folgende Subtypen unterschieden:

  • Frühkindlicher Autismus (F84.0)
  • Atypischer Autismus (F84.1)
  • Asperger-Syndrom (F84.5)
  • Nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung (F84.9)

Voraussichtlich ab Januar 2022, wenn das neue ICD-11 in Kraft tritt, gelten andere Diagnoseschlüssel und Subtypen. Autismus wird zukünftig unter dem Diagnoseschlüssel 6A02 'Autismus-Spektrum-Störung' geführt und in sechs Subtypen unterteilt, welche nach Grad einer eventuellen Einschränkung von intellektueller Entwicklung und funktionaler Sprache unterschieden werden. Zudem wird es eine Kategorie für andere spezifizierte Störungen aus dem autistischen Spektrum sowie eine für einen unspezifischen Autismus 'Autismus-Spektrum-Störung, unspezifisch' geben.

Unlängst wurde das Thema Asperger-Syndrom und Autismus wieder in den Fokus der Medien gerückt, nachdem die Klima-Aktivistin Greta Thunberg sich öffentlich zu ihrem Asperger-Syndrom bekannte.

Dabei ist die gängige Meinung zu Autismus zwiegespalten und das Wissen über die Entwicklungsstörung in der Bevölkerung marginal. Einerseits wird autistischen Menschen, beeinflusst von kontemporären Beispielen aus Medien und Popkultur, eine hohe mathematische Begabung und Fähigkeit zum strukturierten Denken zugerechnet. Andererseits halten sich Bilder des Savants oder des Wunderkinds mit Insel-Fähigkeiten, angelehnt an Filme, in den Köpfen vieler Menschen. Zusätzlich lauert gleichzeitig widersprüchlich-latent die Vorstellung emotionaler Gefühlskälte, sozialer Schwierigkeiten bis hin zur Lebensunfähigkeit, in den Köpfen vieler, wenn es um Autismus geht.

Thunberg ist dabei nicht nur eine Besonderheit, weil sie mit dem Syndrom diagnostiziert wurde, sondern auch wegen ihres Geschlechts. Denn Fakt ist: Vor allem Jungen und Männer werden mit Autismus und dem Asperger-Syndrom diagnostiziert – auch in Deutschland. Das legen aktuelle Zahlen nahe.

Autismus ist eine Entwicklungsstörung, die nicht geheilt werden kann und auch nicht geheilt werden muss. Eltern haben unter Umständen trotz Diagnose und Engagement wenig Einfluss auf den Verlauf. Dennoch gilt: Ein frühes Identifizieren und eine Diagnosestellung schon im Kindesalter bei entsprechenden Symptomen geht in der Regel mit besseren Prognosen bei Autismus und Asperger einher. Eine Zielgerichtete Unterstützung im angemessenen Umfang kann erst dadurch erfolgen. Welche Maßnahmen dies sein sollten und in welchem Umfang ist jedoch umstritten. Zumindest kann erst damit ein wirklich vollumfängliches Verständnis für Besonderheiten des Kindes bei Eltern und dem Umfeld entstehen, wodurch der Umgang mit Autismus erleichtert werden kann. Somit verringert sich die Wahrscheinlichkeit für soziale, akademische oder psychische Probleme als Folgen der Problematik. Dieser Prozess setzt voraus, dass Eltern, Umfeld, Fachpersonal in Kita, Schule oder der Kinderarzt die Symptome erkennen und ein Diagnoseverfahren anstoßen.

Das passiert in Deutschland im Moment jedoch in einer überwältigenden Mehrheit vorwiegend bei Jungen.

Es bleibt die Frage, ob es sich bei den Betroffenen wirklich in überwiegender Mehrheit um Mitglieder des männlichen Geschlechts handelt oder ob mediale Vorstellungen gepaart mit eher undifferenzierte Diagnosekriterien für diesen Umstand sorgen.

Autismus: Wo Diagnose zum Privileg wird

Sogar der Namenspatron des Asperger-Syndroms, Hans Asperger, ging zunächst davon aus, dass Mädchen und Frauen nicht von Autismus betroffen sein können. Die initiale Forschung gründet also allein auf der Erscheinungsform am männlichen Geschlecht. Auch wenn Hans Asperger später seine Meinung revidierte, zeigte sich in den folgenden Jahrzehnten dennoch eine massive Diskrepanz in der Diagnose von Autismus und dem Asperger-Syndrom zwischen den Geschlechtern.

Dabei ist es fraglich, ob Mädchen oder Frauen tatsächlich weniger häufig von Autismus betroffen sind oder die diagnostischen Kriterien schlicht nicht ausreichend auf diese ausgerichtet sind. 1981 machte die britische Psychiaterin Lorna Wing die Feststellung, dass die Diagnose im Falle von hochfunktionalem Autismus, wie dem Asperger-Syndrom, fünfzehnfach häufiger bei Jungen als Mädchen gestellt wurde. Demgegenüber betrug das Verhältnis bei Autismus mit geistiger Einschränkung lediglich 2:1.

Biologische Faktoren könnten hierbei eine Rolle spielen. Viele Experten sind sich einig, dass Kriterien zur Diagnose von Autismus am männlichen Patienten orientiert sind. Autismus bei Mädchen und Frauen wird demnach unterdiagnostiziert, da das weibliche Gehirn gerade im Bereich des hoch funktionellen Autismus über große Maskierungs- und Nachahmungsfähigkeiten verfügt.

Susan F. Epstein, Neuropsychologin

Die derzeitige klassische Autismus-Diagnose ist auf Männer ausgerichtet.

Auch eine Umfrage unter Eltern autistischer Kinder aus Deutschland zeigt diese große Diskrepanz bei den Geschlechtern von Kindern, die tatsächlich eine Diagnose erhalten haben: bei den 207 Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen handelte es sich in 83,6 Prozent der Fälle um Jungen; nur 16,4 Prozent waren Mädchen.

Autismus und Asperger bei Frauen: Geschlechterverteilung von Autismus-Diagnosen bei Kindern in Deutschland. Von 207 Kindern in der Studie waren 83,6 Prozent maennlich und 16,4 Prozent weiblich.

Erklärungsmodelle für den Diagnose Gap bei Autismus

Autismus wird bei vielen Mädchen erst deutlich später erkannt als bei Jungen. So fand eine Studie heraus, dass 23 Prozent der teilnehmenden jungen Frauen, die wegen Anorexia Nervosa (Magersucht) in Behandlung waren, eigentlich eine Form des Autismus als Grunderkrankung aufwiesen. Frühzeitiges Intervenieren könnte solche Folgeerkrankungen möglicherweise verhindern.

Es gibt unterschiedliche Erklärungsmodelle für den Diagnose Gap:

Theorie des weiblichen Autismus Phänotyps

Diese Theorie besagt, dass autistische Störungen sich bei weiblichen Personen schlicht anders äußern als bei männlichen Personen. Die traditionellen Diagnosekriterien seien eher auf die männliche Erscheinungsform von Autismus zugeschnitten, weswegen Frauen und Mädchen weniger häufig eine Diagnose erhalten.

Modell der Verstärkung

Nach dieser Theorie äußere sich Autismus darin, dass dieser die typischen geschlechtlichen Verhaltensformen verstärke. Die bisherigen diagnostischen Ansätze seien dabei an die verstärkten männlichen Verhaltensmuster angelehnt.

Extreme male Brain Theory
(Empathizing-Systemizing Theory)

Nach diesem Erklärungsmodell stünden Störungen des autistischen Spektrums mit der vorgeburtlichen Einwirkung von Testosteron im Gehirn des ungeborenen Kindes in Zusammenhang, weswegen es schlicht weniger Frauen und Mädchen gäbe, die betroffen seien.

Das biologische Erklärungsmodel

Nach dieser Theorie sei ein Zusammenspiel aus biologischen Unterschieden für die Diagnose-Diskrepanz verantwortlich. Dies betreffe Unterschiede bei Genen auf den geschlechtsspezifischen Chromosomen, weswegen Autismus bei männlichen Personen schlicht häufiger vorkäme.

Maskierungs-Theorie

Weibliche Autistinnen seien von Haus aus besser darin, die von ihrem Autismus ausgehenden inhärenten Unterschiede in sozialen Situationen zu überspielen und zu maskieren. Sie blieben deswegen häufiger undiagnostiziert.

Autismus bei Frauen erhöht die Gefahr sexueller Übergriffe

Auch die Form der Unterstützung ist nach Meinung vieler Experten eher auf Jungen und Männer zugeschnitten. Autistische Frauen benötigen häufig in anderen Bereichen Hilfe als autistische Männer. Besonders die weibliche Pubertät stellt eine große Herausforderung für die Betroffenen dar. Autistische Mädchen erscheinen in der Zeit des Erwachsenwerdens für andere junge Frauen sonderbar und bleiben schließlich im sozialen Miteinander außen vor. Zudem legt eine nicht-repräsentative Studie aus Großbritannien nahe, dass autistische Mädchen häufiger Betroffene von sexuellen Übergriffen sein könnten. In der Messgruppe waren es neun von vierzehn Teilnehmerinnen – das entspricht schockierenden 64 Prozent. Ursächlich hierfür sei unter anderem eine erhöhte Vulnerabilität aufgrund von häufig erlebter sozialer Zurückweisung.

In Schweden gibt es seit 1992 eine Langzeitstudie an Zwillingen, bei welcher regelmäßig neue Daten durch Befragungen der Probanden bzw. deren Angehörigen erhoben werden. Im Rahmen dieser Studie (CATSS, Child and Adolescent Twin Study in Sweden) wurde herausgefunden, dass bei Frauen mit einer autistischen Störung das Risiko für sexuelle Übergriffe fast dreifach erhöht war, verglichen mit Probandinnen, bei denen keine Störung aus dem neurodegenerativen Spektrum vorlag.

Autismus und Asperger bei Frauen: Maedchen und Frauen mit Autismus-Spektrum-Störungen haben ein 3-fach erhöhtes Risiko Opfer von sexuellen Uebergriffen zu werden.

In Deutschland gibt es keine repräsentativen Statistiken zur Häufigkeit von Autismus. Weltweit wird von einer Prävalenz von 0,6 - 1 Prozent und einem circa viermal so hohen Vorkommen bei Jungen als bei Mädchen ausgegangen.

Quellen

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  • Ferri SL, Abel T, Brodkin ES: Sex Differences in Autism Spectrum Disorder: a Review. Curr Psychiatry Rep 2018; 20: 9.

  • Höfer J, Hoffmann F, Kamp-Becker I, et al.: Pathways to a diagnosis of autism spectrum disorder in Germany: a survey of parents. Child Adolesc Psychiatry Ment Health 2019; 13: 16.

  • Ohlsson Gotby V, Lichtenstein P, Långström N, et al.: Childhood neurodevelopmental disorders and risk of coercive sexual victimization in childhood and adolescence - a population-based prospective twin study. J Child Psychol Psychiatry 2018; 59: 957–65.

  • Preißmann C: Mädchen und Frauen mit Autismus-Spektrum-Störung. Psychopraxis 2013; 16: 17–9.

  • Westwood H, Tchanturia K: Autism Spectrum Disorder in Anorexia Nervosa: An Updated Literature Review. Curr Psychiatry Rep 2017; 19: 41.

  • Wing L: Sex ratios in early childhood autism and related conditions. Psychiatry Res 1981; 5: 129–37.

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