Womit beschäftigen Sie sich und welche Rolle spielt dabei die Telemedizin?
Dr. Stefan Rohrer: Ich beschäftige mich als Internist grob gesagt mit Erkrankungen aller inneren Organe und im Speziellen mit Beschwerden des Magen-Darm-Trakts. Ich bin Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie und als Oberarzt in einer gastroenterologischen und allgemein internistischen Klinik tätig. Außerdem bin ich Inhaber einer Privatpraxis für komplementärmedizinische Diagnostik und Therapieformen. In letztere kommen vor allem Menschen mit chronischen, oft langjährigen Beschwerden, welchen im klassischen System nicht geholfen werden konnte.
Obwohl Deutschland eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt hat, hat man das Gefühl, die Menschen werden immer chronisch kranker bzw. leiden an mehreren komplexen Beschwerden gleichzeitig. Die chronischen Beschwerden, auch im Magen-Darm-Trakt, nehmen stetig zu. Für diese hat die Schulmedizin häufig keine Antworten bzw. keine kurativen Lösungsansätze. Daher begann ich mich vor einigen Jahren, auch aufgrund gesundheitlicher Probleme in meiner engsten Familie, mit komplementärmedizinischen Heilmethoden zu beschäftigen, mit dem Ziel für betroffene PatientInnen neue Therapie- und Lösungsansätze zu finden.
Im Bezug auch chronische Magen-Darm-Beschwerden untersuche ich stets die Darmflora bzw. das Mikrobiom, die Darmbarriere, verschiedene funktionelle Parameter und verschiedene Blutparameter. Ebenso führen wir je nach Indikation Atemtests durch, z. B. auf eine bakterielle Fehlbesiedelung des Dünndarms (englisch SIBO = Syndrom of Intestinal Bacterial Overgrowth). Dies ist eigentlich ein schulmedizinisches Krankheitsbild, aber vielen KollegInnen nicht bekannt oder diese ordnen es fälschlicherweise dem Komplementärbereich zu.
In der Telemedizin gibt es zahlreiche Möglichkeiten, aber auch Limitationen, im Bezug auf Themen aus dem Bereich der Gastroenterologie. Falls Patienten bereits eine ausreichende Vordiagnostik, auch schulmedizinisch mit endoskopischen Untersuchungen (z. B. Magen- und Darmspiegelung), erhalten haben, können Sie sich eine zweite Meinung einholen. Falls Ihre Beschwerden mit den klassischen schulmedizinischen Therapien nicht gelindert werden konnten, können Sie erfragen, ob es Möglichkeiten einer weiteren Diagnostik gibt oder ob irgendetwas übersehen wurde.
Kurz möchte ich nun auch noch auf Limitationen der Telemedizin in Bezug auf die Gastroenterologie eingehen: Dies sind alle Arten von akuten Beschwerden. Akute, neu aufgetretene Bauchschmerzen, Blut im Stuhl, hochfieberhafte Temperaturen, ausbleibender Stuhlgang, Gelbfärbung der Augen, um nur einige zu nennen. Dies ist nichts für die Telemedizin. Hier muss der Arzt sofort klinisch und laborchemisch sowie je nach Beschwerdebild auch bildgebend tätig werden.
Was sind häufige Beschwerden und wie behandeln Sie diese?
Dr. Stefan Rohrer: Häufig anzutreffende Beschwerden sind Blähungen, chronische Bauchschmerzen, der Verdacht auf eine Nahrungsmittelunverträglichkeit bzw. Nahrungsmittelallergie oder Stuhlunregelmäßigkeiten. Häufig wurden die PatientInnen auch mit einem Reiz-Darm-Syndrom diagnostiziert. Zwei Drittel dieser PatientInnen haben eine bakterielle Fehlbesiedlung des Dünndarms. Diese kann dann auch zu einer sekundären Laktose- und Fruktoseintoleranz führen. Das heißt, dass diese Lebensmittel nach einer SIBO-Behandlung wieder toleriert werden.
Die meisten PatientInnen bringen bereits viele Vorbefunde. Meist geht es Ihnen jedoch nicht oder nicht ausreichend besser. In einer telemedizinischen Sprechstunde sehe ich mir zuerst die vorhandenen Befunde an, ich führe sozusagen eine Bestandsaufnahme durch. Ich bespreche auch etwaige Lücken in der schulmedizinischen Diagnostik und erörtere komplementärmedizinische Diagnostikmaßnahmen, welche ich je nach individuellen Beschwerdebild als sinnvoll erachte.
In einigen Fällen sind auch zusätzlich Blutuntersuchungen sinnvoll, da der Darmtrakt aufgrund seiner Funktion der Aufspaltung und Resorption von Nährstoffen bei einer Fehlfunktion ggf. auch zu Vitamin- und Spurenelementmangelzuständen führen kann, welche sich negativ auf den ganzen Körper auswirken können. Bei einer bakteriellen Fehlbesiedelung, einer Bauchspeicheldrüsenschwäche oder einem Mangel an Gallensäuren kommt es zum Beispiel gehäuft zu einem Mangel der fettlöslichen Vitamine A, D, E, K. Aber auch Eisen oder Vitamin D 3 können deutlich zu niedrig sein.
Welche gesundheitlichen Tipps haben Sie für PatientInnen?
Dr. Stefan Rohrer: Die Ernährung muss immer mitbeachtet und ggf. verbessert werden. Giftstoffe jeglicher Form sind zu eliminieren, wenn man gesund werden möchte. Der Arzt kann hier beraten und die Weichen stellen, den Weg muss der Patient gehen.
Und am wichtigsten bzw. sehr wichtig ist es, auf die mentale Gesundheit zu achten. Wir leben in einer Gesellschaft, in der sehr viele mentale Stressoren vorhanden sind. All diese Stressoren können im Körper den Sympathikus aktivieren, jener Teil des vegetativen Nervensystems, welcher eigentlich evolutionstechnisch für die Kampf- oder Fluchtreaktion vorgesehen ist. Eine Überaktivierung führt zu einem verstärkten Verbrauch von z. B. Vitamin B12, zur Immunaktivierung (Silent Inflammation), zu chronischer Müdigkeit (Adrenal Fatigue) und ggf. auch Burnout.
Jedes körperliche Leiden wird verstärkt durch Stress. Die Arbeit am mentalen Status und am Mindset kann helfen, Beschwerden zu lindern. Ich arbeite viel mit Meditation, mit binauralen Beats und positiven Affirmationen. Emotionen führen zur Ausschüttung von Botenstoffen (Neurotransmittern) im Gehirn und diese lösen Reaktionen im Körper aus. Daher ist die mentale Arbeit nicht zu unterschätzen. Das ganze Gebiet nennt sich Neuropsychoimmunologie und die Erkenntnisse, die gewonnen werden, sind faszinierend. Man kann festhalten, dass körperliche und mentale Gesundheit meist Hand in Hand gehen.
Interessant ist zum Beispiel die Verbindung des Darms und des Gehirns, die sogenannte Darm-Hirn-Achse. Das Nervensystem des Gehirns (ZNS) und das Nervensystem des Darms (ENS) entwickeln sich aus demselben Keimblatt, dem sogenannten Ektoderm. Dies ist in der Embryologie beschrieben. Verbunden bleiben beide ein Leben lang über den 10. Hirnnerv, den Nervus vagus, welcher immens wichtig für die Gesamtgesundheit ist. Bei Störungen des Zentralnervensystems (z. B. Depression) sendet das ZNS über den 10. Hirnnerv Informationen an das ENS und umgekehrt, sodass sich beide laufend beeinflussen. Dysbalancen in der einen Region können auch zu Dysbalancen in der anderen Region führen.